5. Sonntag C der Osterzeit Joh 13,31-35

Christus im Nächsten.

Einführung.

Wir sollen unseren Nächsten lieben, weil er ein Nächster ist, um seiner selbst willen. Wenn jemand Jesus wirklich liebt, wird er das auch tun.

Eine Nonne wurde gefragt, warum sie sich so aufopferungsvoll für die Kranken einsetzt. Sie antwortete, dass sie das alles für Christus tut, dass sie Jesus in ihnen sieht. Christen bewundern diese Antwort, aber ein Atheist wäre entrüstet. Er denkt, die christliche Nächstenliebe sei eine Art frommer Betrug.

Predigt.

Liebe Brüder und Schwestern! Was würde ein Atheist sagen, wenn er in den ignatianischen Exerzitien lesen würde, dass wir alle Geschöpfe, also auch unsere Mitmenschen, nur insoweit benützen sollen, als es unserem Heil dient, und dass wir allem und jedem gegenüber ganz gleichgültig werden sollen. Derartige Formulierungen sind in Andachtsbüchern nicht selten: “Liebt Gott und Gott allein, und betrachtet alles andere als nichts!” Aber so darf das natürlich nicht verstanden werden. Wie sollen wir daher den Ausdruck richtig verstehen: den Nächsten um Christi willen lieben, weil wir Christus in ihm sehen?

Beginnen wir mit der Tatsache, dass wir jeden Menschen für etwas lieben, für eine bestimmte Eigenschaft oder auch nur für eine bestimmte Gelegenheit, einen bestimmten Umstand. Wir bleiben Freunde, weil wir mit jemandem zur Schule gegangen sind, weil wir zusammen in der Armee waren. Wir halten das für ganz natürlich. Wie erstaunt wäre eine Mutter, wenn ihr heranwachsender Sohn sagen würde: “Du ernährst und kleidest mich, weil ich dein Sohn bin. Aber du magst mich nicht wirklich. Wenn ich so wäre, wie ich bin, aber nicht dein Sohn, würdest du mich aus dem Haus jagen.” Ich weiß nicht, wer in dieser Familie den Wunsch gehabt hätte, ein solches Gespräch fortzusetzen! Aber jetzt, wo wir das Thema angesprochen haben, ist es besser, es zu vertiefen, denn es wird uns die tieferen Dimensionen der christlichen Liebe offenbaren. 

Wir warnen den jungen Mann davor, sich an die äußere Erscheinung seiner Braut zu klammern, an ihr hübsches Aussehen. Die Beziehung zu einer menschlichen Person ist eine tiefe und geheimnisvolle Realität. Sie nur anhand von Äußerlichkeiten zu messen, ist des Menschen nicht würdig. Das typische Drama von Cyrano von Bergeracu schildert eindrucksvoll die Absurdität dieser Haltung, in der ein gefälliges Äußeres in Verbindung mit Banalität auf tragische Weise die wahren Qualitäten der Seele und der aufrichtigen Liebe außer Kraft setzt. Auch Intelligenz kann nicht der ultimative Maßstab für intime menschliche Beziehungen sein. Denn ein begabter Mensch kann ein Heiliger oder ein Wucherer oder sogar ein Verbrecher sein.

Wir sagen, dass wir den anderen nach seinem Herzen beurteilen sollen, das heißt, nach dem, was er wirklich ist, nach seinem innersten Wesen. Daraus folgt, dass enge zwischenmenschliche Beziehungen, die auf etwas Äußerem beruhen, auf einer Eigenschaft, die der Person selbst fremd ist, eigentlich unnatürlich sind. Es ist daher unehrlich, eine Frau nur wegen ihres Geldes zu heiraten. Wir können also nicht im eigentlichen Sinne des Wortes eine Person mit einer anderen in der Liebe verwechseln, weder in der Vorstellung noch in der Absicht. Doch nun kehrt der eingangs erhobene Einwand mit vollem Gewicht zurück. Wie ist es möglich, einen Menschen wirklich zu lieben, wenn wir in ihm nichts anderes als Christus sehen wollen?

Die erste und einfachste Antwort liegt im Hinweis auf die Lehre vom Bild Gottes im Menschen. Was bete ich eigentlich an, wenn ich meinen Hut abnehme oder verbeuge ich vor dem Kreuz? Sicherlich nicht Holz oder Stein. Mein Gedenken und mein Interesse gelten dem Gekreuzigten. Wird der Stein oder das Holz des Kreuzes dabei Schaden nehmen? Ganz im Gegenteil! Wenn es aber nicht um Gekreuzigten handelt, würde, würden wir den Stein wegkicken und das Holz verbrennen. Da es sich aber um das Abbild Christi handelt, schützen wir die Materie auch vor Schaden und geben ihr einen Ehrenplatz. In ähnlicher Weise kann man sagen, dass der Kranke, der von einer barmherzigen Schwester gepflegt wird, keinen Schaden dadurch erleidet, dass sie Christus in ihm sieht. Seine äußere Erscheinung kann sogar Abscheu erregen. Aber das wird durch die feste Überzeugung überwunden, dass es ein Dienst am Gekreuzigten ist. Der Kranke wird dadurch nicht benachteiligt, im Gegenteil, er profitiert sehr davon. Es ist vielleicht ähnlich wie die Tatsache, dass eine Familie während des Krieges einem armen Studenten sehr geholfen hat, weil er sie an ihren eigenen Sohn erinnerte, der im Krieg gewesen war. Haben sie ihn damit verletzt? Wollte er damit sagen, dass es sich bei ihren Gefühlen nur um eine Verwechslung von Personen handelt?

Diese Antwort ist nicht schlecht. Aber sie ist dennoch nicht vollständig. Im Fall des armen Studenten, der anstelle, des entfernten Sohnes betreut wird, handelt es sich in Wirklichkeit um eine Verwechslung zweier Personen, die zwar den gleichen Anschein erwecken, in Wirklichkeit aber einander fremd sind. Aber kann man dasselbe von dem kranken Mann und von Christus sagen? Wenn wir Jesus nur als historische Persönlichkeit betrachten würden, nur als jemanden, der vor zweitausend Jahren in Palästina geboren wurde, lebte und starb, dann wäre es in der Tat eine Art fromme Fiktion, ihn als Nachbarn zu sehen. Für uns hingegen ist Christus die lebendige Wirklichkeit, der Grund aller Dinge, das Haupt des mystischen Leibes der Kirche. Nach Paulus sind wir “in ihm eingepfropft” (Röm 6,5), so wie zwei dicht nebeneinander gepflanzte Bäume schließlich einen einzigen Stamm bilden. Durch die Taufe sind wir “in Jesus Christus eingetaucht” (V. 3), damit wir “wie Christus ein neues Leben führen” (V. 4).

Der heilige Paulus setzt also eine enge Verbindung zwischen dem Menschen und Christus voraus, eine Verbindung, die unser Innerstes durchdringt. Wenn also jemand Christus in mir sieht, dann sieht er nicht einen Fremden, an den ich ihn erinnere, sondern er sieht das Schönste und Innerste, das in mir selbst ist. Er liebt mich mit der edelsten Liebe, denn er schätzt das Wertvollste an mir, er schätzt mein Herz, das der Tempel Gottes ist. Von diesem Tempel aus vergießt also die Gnade des Geistes in die natürlichen Eigenschaften, in das Denken, Wollen, Fühlen und das leibliche Leben über. Deshalb behandelt die barmherzige Schwester den kranken Körper ihres Nächsten liebevoll mit der gleichen Hingabe, mit der ein christlicher Erzieher die geistigen Eigenschaften eines Kindes pflegt, mit der ein Priester die moralischen Wunden des Herzens behandelt. All dies geschieht für Christus und in Christus, und damit auch für den Menschen, für den Nächsten.

Einer der Krankenpfleger in Afrika schrieb in sein Tagebuch: Es gibt Menschen, die Christus im Allerheiligsten anbeten, indem sie vor der Hostie in der goldenen Monstranz knien. Ich versuche, ihm die gleiche Ehrfurcht in Kranken zu erweisen. Ich knie vor ihm nieder, wenn ich das Bein eines Aussätzigen verbinde, ich bete ihn an, wenn ich den Umschlag auf seinen heißen Kopf auflege. 

Liebe Brüder und Schwestern, ich möchte euch das Wort des Apostels der Liebe, des Heiligen Johannes, mit auf den Weg geben:

“Geliebte, lasst uns einander lieben; denn die Liebe ist aus Gott, und jeder, der liebt, ist aus Gott geboren und kennt Gott. Wer nicht liebt, hat Gott nicht erkannt; denn Gott ist Liebe. … wenn wir einander lieben, bleibt Gott in uns und seine Liebe wird in uns vollkommen. Und dass wir in ihm bleiben und er in uns, wissen wir daran, dass er uns von seinem Geist gegeben hat (1 Joh 4,7-13).

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