2.Sonntag der Osterzeit/Sonntag der göttlichen Barmherzigkeit/ Joh 20,19-31

Barmherzigkeit oder Gerechtigkeit?

Heute bietet uns die Heilige Mutter Kirche eine besondere Möglichkeit, die Barmherzigkeit Gottes zu betrachten. Der Heilige Vater spricht in seiner Enzyklika “Dives in misericordia” die folgenden Worte über dieses Geheimnis. Er weist uns darauf hin, dass der Sohn Gottes die Offenbarung Gottes des Vaters ist. “Wer mich sieht, sieht den Vater”. (Joh 14,9). Es gibt also keine Schizophrenie in Gott. Der Sohn Gottes ist die Offenbarung des Vaters in allen seinen Worten und Taten. Er ist die wunderbarste Manifestation der Liebe Gottes. Was die Liebe Gottes zum Menschen betrifft, gibt es keinen Unterschied zwischen Gott dem Vater und Gott dem Sohn. Wir dürfen die vom Sohn vollbrachte Erlösung nicht als etwas verstehen, das uns vor einem zornigen Gott, dem Vater, schützen soll. Die Idee der Erlösung des Menschen wurde im Herzen Gottes, des Vaters, geboren. Reich an Barmherzigkeit ist der Gott, den Jesus Christus uns als Vater offenbart hat.

Der Heilige Vater fährt fort zu erklären, wie wir die Beziehung zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit im Herzen Gottes verstehen sollen. Er sagt: “Auf diese Weise steht die Barmherzigkeit in gewissem Sinne im Gegensatz zur göttlichen Gerechtigkeit und erscheint ihr oft nicht nur als mächtiger, sondern auch als tiefgründiger. Schon, dass Alte Testament lehrt, dass die Gerechtigkeit zwar eine wahre Tugend im Menschen und eine wesentliche Vollkommenheit in Gott ist, dass aber die Nächstenliebe “vorzüglicher” ist, weil sie zuerst und grundlegend ist. Man kann sagen, dass die Liebe die Gerechtigkeit mäßigt, und die Gerechtigkeit wiederum dient der Liebe. Diese Überlegenheit und Vorzüglichkeit der Liebe gegenüber der Gerechtigkeit ist für die gesamte Offenbarung charakteristisch und wird gerade durch die Barmherzigkeit zum Ausdruck gebracht. Für die Psalmisten und Propheten war es so klar, dass das Wort Gerechtigkeit für sie letztlich die Rettung durch den Herrn und seine Barmherzigkeit bedeutete.

Vielleicht nur eine Anmerkung dazu, dass Gottes Gerechtigkeit etwas ganz anderes ist als unsere menschliche Gerechtigkeit. Wir definieren unsere Gerechtigkeit so, dass wir versuchen, jedem das zu geben, was er verdient. Vielmehr sollten wir Gottes Gerechtigkeit so verstehen, dass er “jedem gibt, was er braucht”. Eine solche Gerechtigkeit ist keineswegs unvereinbar mit Liebe und Barmherzigkeit. Letztlich wird diese Gerechtigkeit Gottes in der Gabe seines Sohnes, in seinem Tod für uns und zu unserem Heil bestätigt. Die Barmherzigkeit unterscheidet sich also von der Gerechtigkeit, aber sie steht nicht im Gegensatz zu ihr, wenn wir die Gegenwart Gottes in der menschlichen Geschichte anerkennen, der als Schöpfer eine besondere Liebe zu seinen Geschöpfen hat. Denn die Liebe schließt von Natur aus Hass und den Wunsch nach Bösem gegen denjenigen aus, dem sie einst geschenkt wurde: “Du hasst nichts von dem, was du getan hast”. Diese Worte offenbaren die tiefe Grundlage der Beziehung zwischen Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit in Bezug auf den Menschen und die Welt. Darüber hinaus betonen sie, dass die belebenden Wurzeln und letzten Ursachen dieser Beziehung im “Anfang” der Dinge, im Geheimnis der Schöpfung, gesucht und gefunden werden müssen. Schon im Alten Testament kündigen sie die volle Offenbarung Gottes an, der “die Liebe ist”.

Im Leiden und Sterben Christi – da der Vater seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern ihn “für uns zur Sünde gemacht hat” – zeigt sich daher die absolute Gerechtigkeit darin, dass Christus für die Sünden der Menschheit leidet und stirbt. Es ist eine “überfließende Fülle” der Gerechtigkeit, wenn die Sünden der Menschen durch das Opfer des Gottmenschen unermesslich “ausgeglichen” werden. Diese Gerechtigkeit ist ganz und gar “nach dem Maß” Gottes; sie kommt ganz und gar aus der Liebe, nämlich der Liebe des Vaters und des Sohnes; sie trägt auch ganz und gar die Früchte der Liebe. Die am Kreuz Christi geoffenbarte göttliche Gerechtigkeit ist also “nach dem Maß” Gottes, denn sie entspringt der Liebe, und in der Liebe findet sie ihre Vollendung, indem sie die Früchte des Heils hervorbringt. Es ist Gott selbst, der die Schuld für Adams Sünde bezahlt. Die göttliche Fülle der Erlösung bezieht sich nicht nur auf die Sühne für die Sünde, sondern stellt im Menschen liebevoll jene schöpferische Kraft wieder her, durch die er wieder zur Fülle des Lebens und der Heiligkeit gelangen kann, die von Gott kommt. Die Erlösung bringt also die Offenbarung der Barmherzigkeit in ihrer ganzen Fülle mit sich.

Das Ostergeheimnis ist also der Höhepunkt dieser Offenbarung und Verwirklichung der Barmherzigkeit, die den Menschen gerecht machen und die Gerechtigkeit selbst wiederherstellen kann, insofern sie mit jener Heilsordnung identisch ist, die Gott von Anfang an im Menschen und durch den Menschen in der Welt verwirklichen wollte. Der leidende Christus wendet sich in besonderer Weise an den Menschen, und zwar nicht nur an den Gläubigen. Denn auch der ungläubige Mensch kann in ihm eine glühende Beziehung und Verbundenheit mit dem menschlichen Schicksal finden, auch eine Fülle von selbstloser Hingabe an die Sache des Menschen, an die Wahrheit und die Liebe. Aber die göttliche Erfüllung des Ostergeheimnisses geht noch tiefer. Denn das auf Golgatha errichtete Kreuz, von dem aus Christus zum letzten Mal zu seinem Vater spricht, ist gleichsam die Offenbarung jener tiefen Liebe, mit der der Mensch, der nach Gottes ewigem Ratschluss als Abbild und Gleichnis Gottes geschaffen wurde, einst begnadet wurde. Gott, den Christus uns geoffenbart hat, ist nicht nur als Schöpfer und erster Grund des Seins eng mit der Welt verbunden; er ist auch Vater. Mit dem Menschen, den er zum Leben in dieser sichtbaren Welt berufen hat, verbindet ihn ein engeres Band als das, das sich aus der Schöpfung ergibt. Es ist eine Liebe, die nicht nur Gutes schafft, sondern auch am Leben Gottes selbst teilhaben lässt: Vater und Sohn und Heiliger Geist. Denn wer liebt, der wünscht, sich hinzugeben.

Was sagt uns das Kreuz Christi, das gewissermaßen die endgültige Manifestation seiner messianischen Botschaft und Sendung ist? Das Kreuz – mit all seinem messianischen Zeugnis des an ihm gestorbenen Menschensohns – spricht immer noch von Gott, dem Vater, der seiner Liebe zum Menschen absolut treu ist: “Denn also hat Gott die Welt geliebt” – und damit die Welt der Menschen – “dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe.” Aber an den gekreuzigten Sohn zu glauben bedeutet, “den Vater zu sehen”; es bedeutet zu glauben, dass es Liebe in der Welt gibt und dass sie stärker ist als alles Böse, in das der Mensch, die ganze Menschheit und die Welt verwickelt sind. An eine solche Liebe zu glauben, bedeutet auch, an die Barmherzigkeit zu glauben. Denn sie ist ein notwendiger Bestandteil der Liebe, sie ist sozusagen ihr zweiter Name. Sie ist auch ihre Manifestation und Ausübung gegen das wahre Böse in der Welt, das den Menschen verführt und quält, in seine Seele eindringt und ihn sogar “in der Hölle vernichten” kann.

Und doch ist das Kreuz nicht das letzte Wort Gottes und seines Bundes: Dieses Wort wurde erst in der Morgendämmerung jenes Tages gesprochen, als zuerst die Frauen und dann die Apostel zum Grab des gekreuzigten Christus kamen, sahen, dass das Grab leer war, und zum ersten Mal die Botschaft hörten: “Er ist auferstanden”. Sie verkündeten es weiter und wurden Zeugen des auferstandenen Christus. Doch selbst in dieser Verherrlichung des Gottessohnes ist das Kreuz noch gegenwärtig. Das Kreuz Christi auf Golgatha bezeugt auch die Macht des Bösen gegen den Gottessohn selbst. So ist das Kreuz Christi, an dem Gott der Sohn, der mit dem Vater eins ist, der Gerechtigkeit Gottes vollkommene Genugtuung geleistet hat, eine Art “fundamentale” Offenbarung der Barmherzigkeit, ja der Liebe, die gegen die eigentliche Wurzel allen Übels in der Geschichte des Menschen kämpft: die Sünde und den Tod. Im Kreuz beugt sich Gott also zutiefst dem Menschen und all dem, was der Mensch – vor allem in schwierigen und schmerzhaften Momenten – sein unglückliches Schicksal nennt.

Das Kreuz ist gleichsam die heilende Berührung der ewigen Liebe, die die schmerzhaftesten Wunden des menschlichen Lebens auf Erden heilt; es bedeutet, dass das messianische Programm, das Christus einst in der Synagoge von Nazareth verkündet und dann vor den Boten Johannes des Täufers wiederholt hat, vollständig erfüllt ist. Dieses Programm wurde – wie bereits in der Prophezeiung Jesajas angedeutet – durch die Offenbarung der barmherzigen Liebe gegenüber den Armen, den Gefangenen, den Blinden, den Unterdrückten und den Sündern verwirklicht. Aber das Ostergeheimnis geht über die vielfältigen Übel hinaus, die den Menschen im irdischen Leben heimsuchen: Das Kreuz Christi lässt uns die tiefsten Wurzeln des Bösen sehen – nämlich Sünde und Tod – und wird so zu einem eschatologischen Zeichen.

Erst in der eschatologischen Vollendung und in der endgültigen Erneuerung der Welt wird die Liebe die inneren Quellen des Bösen in allen Auserwählten überwinden und als reife Frucht das Reich des Lebens, der Heiligkeit und der glorreichen Unsterblichkeit hervorbringen. Aber die Grundlage dieser eschatologischen Vollendung ist bereits im Kreuz Christi und in seinem Tod zu finden. Die Tatsache, dass Christus “am dritten Tag von den Toten auferstanden” ist, ist der endgültige Beweis für seine messianische Mission, die Vollendung der gesamten Offenbarung der barmherzigen Liebe in einer Welt, die unter verschiedenen Übeln leidet. Es ist auch ein Zeichen, das auf den “neuen Himmel und die neue Erde” hinweist, wenn Gott “jede Träne von ihren Augen abwischen wird, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein, denn das Erste ist vergangen”.

 

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